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Mein Traum von der Freiheit in der großen Stadt zu leben

Mein Traum von der Freiheit in der großen Stadt zu leben

Natalie Müller
Mein Traum von Freiheit in der großen Stadt zu leben The Bold Woman

Der 24. Dezember 2016 – der Tag, an dem es mir endgültig reichte

Schon als Kind bekam ich zu hören „Natalie, du bist nichts. Natalie, du bist ein Stück Dreck. Wenn du Zuhause bist, fühle ich mich unwohl. Wenn ich dich ansehe, wird mir schlecht.“ Und das zehn Jahre lang täglich von den Menschen, die einem eigentlich das genaue Gegenteil erzählen sollten – von meiner Familie. Wenn man das denn so nennen kann. Klar, ich hatte Eltern. Doch mein Papa hat sich umgebracht, als ich gerade mal zehn Monate alt war. Meine Mutter war damals knapp 20 und mit der Situation und mir total überfordert. So zog ich zu Oma, bei der wohnte ich, bis ich etwa fünf war. An diese Zeit erinnere ich mich gerne zurück, weil ich mich dort so richtig wohl fühlte. Ich bekam hier ein Gefühl der Liebe und Wertschätzung. Etwas, was ich schon bald für eine sehr lange Zeit nicht mehr bekommen sollte.

Als ich zurück zu Mama und ihrem damaligen Freund und meinem inzwischen geborenen, kleinen Bruder kam, heulte ich Rotz und Wasser. Als hätte ich schon geahnt, was mich erwarten sollte. Von da an begannen die Schimpf- und Hasstiraden, Spöttereien und Zurückweisungen. Täglich sah ich mit an, wie mein Bruder geknutscht, geknuddelt und geliebt wurde, während sie mit mir nicht ein normales Wort wechselten.

Ich wurde älter und bekam mit, wie meine Mama sich von dem Vater meines Bruders trennte, um mit dessen besten Freund durchzubrennen. Neue Stadt beziehungsweise Dorf, neues Glück. So schien es anfangs. Doch schon bald fingen hier auch wieder die herablassenden Kommentare zu mir und über mich an. Mittlerweile war ich schon 13 und wollte natürlich mit meinen Freundinnen nach der Schule was machen. Shoppen. Kino. Den ganzen Mädelskram eben. In den ganzen Jahren durfte ich das zweimal. Sonst durfte ich nicht raus. Auch im Haus sollte ich mich so wenig wie möglich in der Küche, im Wohnzimmer oder dem Esszimmer aufhalten. Meine Kindheit verbrachte ich also in der Schule oder in meinem Bett. Wenn keine Schule war, verließ ich mein Zimmer nur, um ins Bad zu gehen oder um etwas zu essen. In den Sommerferien kam ich sechs Wochen lang nicht an die frische Luft und redete kein Wort. Ich las und las. Lernte und lernte. Und wünschte, dass die Geschichte von Harry Potter doch wahr sein würde und Hagrid eines Tages vor unserer Tür stehen würde. Doch er kam nicht. Stattdessen kam eine weitere Trennung, ein weiterer Umzug in eine andere Stadt. Verbunden mit einem neuen Freund meiner Mama. Vom Umzug hatte ich erst erfahren, als es an dem Tag soweit war und ich nicht in die Schule durfte. Nicht einmal von meinen Freunden konnte ich mich verabschieden.

Es sah so aus, als würde Mama einen Neuanfang mit mir wagen. „Wir ziehen in ein großes Haus. Ihr bekommt beide ein eigenes Zimmer und deines, Natalie, machen wir zuerst.“ Das sah die ersten Tage auch so aus. Bis ich von meinem Zimmer ausziehen musste, im Wohnzimmer schlafen und meine Kleidung auf dem Boden verteilen musste, weil ich keinen Kleiderschrank mehr bekam. Wenige Tage später wollte mich Mama gar nicht mehr sehen und ich zog in ein Abstellzimmer ohne Möbel. Okay, ich hatte eine Couch zum Schlafen, aber sonst nichts. Ich musste morgens um sechs aus dem Haus und durfte abends erst um Punkt neun nach Hause. Egal ob Schule war oder Wochenende. Sie gaben mir 200 Euro und davon musste ich mir alles selbst kaufen. Essen, Kleidung, Schulsachen, Kosmetik- und Hygieneartikel. Zum Glück fand ich schnell Freunde, sodass die Zeit vor und nach der Schule schnell vorüberging. Und zum Glück war schon Frühling, sonst hätte ich mir echt den Arsch abgefroren.

Irgendwann kam das Jugendamt. Sie fragten, wie es mir gehen würde. Da kam alles aus mir heraus. Ich erzählte ja sonst niemandem, dass ich Zuhause so fertig gemacht werde und dass ich nicht Zuhause sein darf und am Familienleben teilnehmen darf. Ich fing an, mir alles von der Seele zu reden und fing an, zu weinen. Bis zu diesem Zeitpunkt war es mir noch gar nicht bewusst, dass mich das alles so verletzt. Mama, ihr Freund und mein Bruder waren bei diesem Gespräch natürlich dabei und verzogen keine Mine. Als das Jugendamt weg war, schnauzte mich Mama an. „Meinst du deine Krokodilstränen und deine Geschichte kauft dir irgendjemand ab? Es weiß doch jeder, dass du das Problem bist, weil du einfach nur auf die Welt gekommen bist.“ Das saß wie ein Schlag in die Magengrube.

Drei Tage später fuhren wir in ein Kinderheim. Ich sollte es mir nur mal ansehen. Wir redeten zuerst mit der Heimleitung, dem Psychologen und der Wohnbereichsleitung. Meine Mutter wurde gefragt, welche Gefühle sie mir gegenüber hat. „Nur Hass.“ Alle wirkten betroffen. Mich wunderte das gar nicht. Eine andere Antwort hätte ich nicht erwartet. Wir fuhren wieder nach Hause. Weitere zwei Tage später stand der Freund meiner Mutter vor mir: „Wie hat es dir in Hemau gefallen?“ Ich sagte: „Gut.“ „Willst du dahin?“ Ohne zu überlegen, bejahte ich die Frage. „Dann pack deine Sachen, du wirst gleich abgeholt.“ So packte ich mein wenig Hab und Gut zusammen. Die Jugendamtmitarbeiter kamen wenig später in meine Abstellkammer und sahen sich betroffen um. Wortlos gingen wir zu ihrem Auto. Weder Mama noch ich verabschiedeten uns. Mein Bruder und der Freund meiner Mutter sagten auch nichts. Auf der Autofahrt wusste ich, dass jetzt alles nur noch besser werden konnte. Ich freute mich direkt.

Ich kam also ins Heim. Da war ich knapp 15 Jahre alt. Dort blieb ich, bis ich fast volljährig war und etwas weiter weg meine Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin anfing. In Gesprächen mit Mitschülern oder neuen Bekanntschaften versuchte ich, nie das Gespräch auf meine Vergangenheit zu bringen. Ich merkte schnell, dass ein Heimkind schnell einen Stempel auf der Stirn hat. Schwererziehbar. Problemkind. Zicke. Versager. Jemand, der es im Leben nie zu etwas bringen sollte. Obwohl ich unendlich dankbar bin, dass ich dort gelandet bin, habe ich mich dafür geschämt, das zu sagen. Ich wünschte mir immer eine heile Familie, in der man sich liebt, unterstützt und immer füreinander da ist. Mir war es peinlich, dass ich es nie hatte. Ich dachte, ich sei schuld, dass ich das nicht bekommen habe. Also erzählte ich nie etwas darüber.

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Ich brauche es wahrscheinlich nicht zu erwähnen, aber ich hatte kein Selbstwertgefühl, kein Selbstbewusstsein und keinen einzigen, guten Gedanken über mich selbst. Das zieht auch im Erwachsenenleben noch Spuren nach sich. In der Arbeit wurde ich gemobbt, meine Freunde waren meine Freunde, weil sie jemanden hatten, der ihnen nach der Pfeife tanzt und bei dem sie sich ausheulen können. An meinem 23. Geburtstag erkannte ich endlich, dass es noch ein anderes Leben gibt. Eines, in dem man all seine Träume erfüllen kann. Ein Leben, in dem man Wertschätzung erfährt und es wirklich Menschen gibt, die froh sind, dass sie dich haben. Bis dahin dachte ich, dass mein Leben nur daraus bestünde, mich fertigmachen zu lassen, damit andere sich abreagieren können. Ich trat das erste Mal mit Persönlichkeitsentwicklung in Kontakt und bekam mittendrin so etwas zu hören wie: „Du darfst das machen, was dir Spaß macht. Du musst dich nicht in ein Hamsterrad quetschen lassen.“ Ich war jedes Mal wieder erstaunt, was Leute so erzählen, was alles möglich ist. Ich kam mit Network Marketing in Berührung und wurde von dem, der mich dazu brachte, stark an die Hand genommen. Er wurde mein Mentor. Und er stellte mir die Aufgabe, ein Visionboard zu machen.

Ganz groß prangte dort dann das Bild von Berlin mit der Jahreszahl 2019. In Berlin wollte ich schon immer wohnen. Ich wuchs in kleinen, bayrischen Dörfern auf. Mit elf begann ich, deutschen Rap zu hören. Es gab mir den Mut, meine Situation durchzuhalten. Schließlich rappten sie auch darüber, wie hart ihre Kindheit war und was sie daraus kreiert haben. Für mich war Berlin deshalb ein Ort, an dem alles möglich ist. So ähnlich wie New York, nur eben in Deutschland. Noch dazu stellte ich es mir unglaublich spannend vor, an einem neuen Ort wie Berlin völlig neu anzufangen. An einem Ort, wo mich und meine Vergangenheit niemand kennt und ich als völlig neuer Mensch dort anfangen konnte – ohne Vorurteile, alte Lasten und dem unbedingten Willen, meine Träume endlich real werden zu lassen. Doch irgendwie hatte ich auch Angst davor, das wirklich in die Tat umzusetzen. Schließlich kannte ich dort niemanden und hatte im Urlaub nur einen Bruchteil der Stadt gesehen, kannte mich also auch nicht in der Großstadt aus. 2016 dachte ich also, dass 2019 realistisch sei, weil ich Zeit hatte, mich richtig darauf vorzubereiten. Vor allem mental. Doch es sollte anders kommen.

Gemobbt wurde ich in der Arbeit schon immer. Doch um Weihnachten 2016 spitze es sich zu. Der Oberarzt schrie mich wegen Dingen an, für die ich gar nichts konnte. Kollegen halfen mir nicht, obwohl es schon gefährlich für die Patienten wurde. Ich lief wieder einmal weinend nach Hause. Am 24. ging ich das zweite Mal innerhalb einer Woche mit Tränen in den Augen nach Hause. Eine Kollegin schrie mich an, dass sie mich richtig fertigmachen wollte, weil ich eine Infusionsflasche zu wenig in den Schrank gestellt habe.

Zuhause weinte ich mir die Augen aus dem Kopf. Mein Leben zog an mir vorbei und auch die Erkenntnisse und Worte, die mein Mentor mir brachte. Ich schrieb die Kündigung. Ich konnte und wollte nicht mehr so mit mir umgehen lassen. 23 Jahre waren genug. Es wurde Zeit, dass ich mal so wertgeschätzt werde, wie ich es verdient hatte und das ging auf keinen Fall mit Kollegen, die ihren Frust an mir ablassen. Nach der Kündigung wusste ich gar nicht so recht, was ich machen soll. Wieder ins Krankenhaus? Ambulante Pflege? Betreutes Wohnen im Intensivpflegebereich? Immer wieder sah ich mein Visionboard an. Irgendwann dachte ich: Warum 2019? Warum nicht Sommer 2017 in Berlin? Also plante ich meinen Umzug nach Berlin. Und wie ich damals schon ahnte auch in mein neues Leben. Natürlich war auch das kein Zuckerschlecken mit vielen Ups und Downs. Doch ich bin mir heute noch dankbar, dass ich diesen Mut aufgebracht habe und auf niemanden gehört habe, der gesagt hat, dass aus mir nie etwas werden wird, dass ich es in Berlin nicht schaffen würde und dass ich nie etwas Gutes in meinem Leben verdient hätte. Es hat niemand verdient, von anderen beleidigt, bloßgestellt, erniedrigt und mental zerstört zu werden. Wer es doch erlebt, hat es selbst in der Hand, dort auszubrechen und sich eine bessere Realität aufzubauen. Wenn ich es geschafft habe, dann kann das ausnahmslos jede andere auch schaffen.

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